Tief im Herzen der unzugänglichen Pakaraima-Berge Guyanas findet, von dichten Regenwäldern verborgen, seit Urzeiten ein Schauspiel statt, das weltweit seinesgleichen sucht. Von einem Hochplateau stürzen die Wassermassen des Potaro-Flusses donnernd rund 230 Meter in die Tiefe und bilden den höchsten völlig freifallenden Wasserfall der Erde. Nur wenige Europäer haben dieses gewaltige Naturwunder bisher mit eigenen Augen gesehen. Der erste von ihnen war der britische Geologe Charles Barrington Brown, der als offizieller Entdecker des atemberaubenden Wasserfalls gilt. Am 2. Februar 1870 hatte er Georgetown, die Hauptstadt Guyanas, verlassen um die Geologie der Gebiete zwischen den Essequibo-, Rupununi-, Ireng- und Mazaruni-Flüssen zu erkunden. Nach monatelangen, beschwerlichen Märschen erreichte die Expedition schließlich den Potaro-Fluss. Am 24. September 1870 war es dann soweit: Charles Barrington Brown erblickte als erster Europäer den Kaieteur-Fall, dessen Rauschen er schon am Tag zuvor aus weiter Ferne vernommen hatte. Die magische Schönheit des Ortes verzauberte auch den ansonsten so nüchternen Wissenschaftler. Bewegt notierte er in sein Tagebuch:
„Wir schlugen uns durch niedrige Büsche und kletterten über hohe, quadratische Steinblöcke hinweg, bis wir schließlich die Kante des majestätischen Falls erreichten. Hier bot sich mir ein Anblick, wie ich ihn nie zu sehen erwartet hatte und den mein schwacher Stift unmöglich zu beschreiben vermag. Stellt euch einen Fluss von etwa 90 Meter Breite und sechs Meter Tiefe vor, welcher als eine riesige weiße Masse donnernd über ein Kliff 300 Meter hinunter in ein ausladendes Bassin fällt, und ihr erahnt vielleicht etwas von der Pracht und Mächtigkeit des Kaieteur Falls.“
Obwohl inzwischen ein Nationalpark errichtet wurde und Besucher den Wasserfall mit dem Buschflugzeug erreichen können, bietet sich Kaieteur auch heute noch so dar, wie Charles Brown ihn einst erblickte. Die Szenerie kann sich minütlich ändern. Gerade noch hüllen Morgennebel oder die aufsteigende Gischt die Welt in mystische Schleier, während im nächsten Moment die Sonne hindurch bricht und den Blick auf ein tropisches Paradies freigibt. Von bunt schillernden Regenbögen begleitet, ergießen sich die Wassermassen in einen Talkessel aus schwarzem Gestein, das von dunkelgrünen Moosen überzogen wird. In der Ferne erheben sich mächtige Tafelberge und endlose Waldberge begleiten das Tal des Potaro nach Nordosten. Nachmittags schwirren Schwalben todesmutig durch den Wasserfall zu ihren Nestern in der dahinter liegenden Höhlung oder Aras gleiten wie gefiederte Juwelen über das Tal. Auf warmen Steinen sonnen sich bunte Eidechsen und aus dem Halbdunkel des Urwaldes ertönt bisweilen der Ruf der seltenen orangeroten Felsenhähne.
Kaieteur vermittelt uns ein Gefühl zeitlosen Friedens und von Harmonie. Wie es dazu kam, erzählt die Sage der Patamona-Indianer über die Entstehung des Namens „Kaieteur“:
Als sich die Patamona immer wieder von den kriegerischen Kariben bedrängt sahen, wandte sich der Häuptling Kai an den großen Geist Makunaima und bot sich als Opfer für den Frieden an. Makunaima willigte ein. Also stieg der Häuptling Kai in sein Kanu und stürzte sich mit den tosenden Fluten des Potaro-Flusses in die Tiefe. Durch sein Opfer kehrte Frieden in das Land der Patamona ein und der Wasserfall trägt seither den Namen „Kaieteur“ was so viel bedeutet wie: Der Ort, wo Kai gefallen ist.